Artikel: "Warum es Regelbrüche in der katholischen Kirche braucht"
05/31/2023Prof. Dr. Matthias Remenyi hat einen Artikel auf "Kirche und Leben" veröffentlicht
Warum es Regelbrüche in der katholischen Kirche braucht
Der Fundamentaltheologe Matthias Remenyi über Recht und Rechtsbruch
"Wir werden im kirchlichen Feld zunehmend mehr Regelbrüche erleben. Schlicht deshalb, weil die hinter diesen Regeln stehenden Normen und Theorien nicht mehr plausibilisierbar sind", sagt der Fundamentaltheologe Matthias Remenyi. Und beschreibt, warum das auch für das Recht eine gute Entwicklung ist.
Erzbischof Robert Zollitsch hat Recht gebrochen. Er hat gelogen und vertuscht, hat die Opfer kalt im Stich gelassen und die Täter geschützt. Die Regeln, die er selbst als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz mit eingeführt hat, ließ er in Freiburg unbeachtet. Mit dieser vielfachen Schuld muss er nun leben. Die von sexualisierter Gewalt Betroffenen müssen es auch.
Wir brauchen eine Ordnung des Rechts in unserer Kirche, die ihren Namen verdient. Und wir brauchen die Beachtung des Rechts in unserer Kirche. Das ist die eine Seite.
Regelbrüche, aus denen Segen erwächst
Die andere Seite ist: Wir werden in Zukunft im kirchlichen Feld zunehmend mehr Regelbrüche erleben. Schlicht deshalb, weil die hinter diesen Regeln stehenden Normen und Theorien nicht mehr plausibilisierbar sind. Und wir brauchen diese Regelbrüche, damit Neues in der Kirche entstehen kann. Aktionen wie #OutInChurch“ oder „Liebe gewinnt“, aber auch Laien- und vor allem Frauenpredigten sowie ökumenische Mahlfeiern sind solche Regelbrüche, aus denen Segen erwächst.
Das ist nicht überraschend. Der Theorie-Praxis-Zirkel gilt auch im Raum der Kirche. Oft genug haben sich veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder neue Denkformen zu einer neuen kirchlichen Praxis verdichtet. Oft genug auch gegen erbitterte amtskirchliche Widerstände. Die Legitimation durch die amtskirchliche Normsetzung folgte dann später nach.
Regelbrüche als Zeichen von Rechtstreue
Wie also umgehen mit dem Paradox von Recht und Rechtsbruch? Es gibt eine Parallele im bürgerlichen Recht.
Der zivile Ungehorsam zum Beispiel von Klimaaktivisten oder im Kirchenasyl dient als punktueller, kalkulierter Regelbruch nicht der Zerstörung von Recht, sondern gerade dessen Wiederherstellung angesichts evidenter Missstände. Gerechtigkeit und Recht sollen befördert, nicht einfach ausgehebelt werden. Er ist Ausdruck der Rechtstreue jener, die nicht über die Macht verfügen, selbst unmittelbar rechtsetzend tätig zu werden. Gesetze, die dem Rechtssinn zuwiderlaufen, können identifiziert und geändert werden.
Auch das Kirchenrecht hat eine oberste Regel
Doch wo ist die Grenze, und welcher Maßstab soll gelten? Die Kirche kennt ein Kriterium zum Umgang mit Recht, das über allem steht. Sie nennt es das Seelenheil. Salus animarum suprema lex. Das Heil der Seelen ist oberstes Gesetz. Was verschwurbelt klingt, heißt konkret: Oberste Norm allen kirchlichen Rechts ist seine Lebensdienlichkeit. Recht soll bei uns sein, was Leben in Fülle und Lebendigkeit, was Wohlergehen für alle in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinn befördert.
Im Fall der bischöflichen Vertuschung hat die Missachtung des Rechts aus der Position der Macht heraus ein dysfunktionales System stabilisiert und verletztes Leben ein weiteres Mal verletzt. Der Rechtssinn wurde missachtet, die Rechtstreue zerstört.
Im Fall von #OutInChurch und „Liebe gewinnt“ hat die Missachtung des Rechts aus der Position der Ohnmacht heraus ein dysfunktionales System dechiffriert und verletztes Leben wenn schon nicht geheilt, so doch gewürdigt. Der Rechtssinn wurde erhalten und hat – zumindest mit Blick auf die neue Grundordnung – zu neuer Rechtsetzung geführt. Das ist der Unterschied. Gebe Gott uns die Gabe der Unterscheidung und den Mut, sie zu leben.
In unseren Gastkommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Den Artikel finden Sie auch auf der Website von Kirche und Leben.