„Glaubensfrage" - Kolumne von Hildegund Keul: Dem Hass widerstehen
11/10/2020Kolumne von Hildegund Keul, Theologin und Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg, in der österreichischen Wochenzeitschrift „Die Furche“
"Das Schlimmste an diesen Leiden ist nicht der ertragene Schmerz, sondern der von anderen in ihrer Raserei gewollte Schmerz. Das zutiefst Erschreckende liegt im Entschluss derer, die ihn fordern.“ So schrieb es 1947 Georges Bataille in seinem Essay „Henker und Opfer“. Die heutige Traumaforschung bestätigt die These: Bei Überlebenden erhöht Gewalt, die von anderen Menschen durch Folter, sexualisierte Gewalt oder eben von Terroranschlägen ausgeübt wird, die Wahrscheinlichkeit einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Diese ist bei Gewalt durch Naturkatastrophen deutlich niedriger.
Der Terroranschlag in Wien zielt auf dieses Schlimmste. Er will nicht nur die Menschen treffen, die von seinen Waffen direkt erreichbar sind. Er greift auf die Stadt, den Staat, sogar auf Europa zu, indem er sie in ihrer Verwundbarkeit bloßstellt. Bloßstellungen aber, die die Verwundbarkeit eines starken Staates offenlegen, sind eine perfide politische Macht. Sie sind mit Scham verbunden, die Wut freisetzt; mit Ohnmacht, die nach Rache ruft; mit Schmerz, der zu den Waffen greift. Nicht nur die Wunde selbst, sondern mehr noch die in ihr steckende Vulnerabilität birgt daher politische Sprengkraft. Sie weckt Vulneranz, eine heimlich im Inneren hochkochende Gewaltsamkeit, die allzu gern das Handeln bestimmen würde.
„Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Diese Antwort fand der französische Journalist Antoine Leiris, nachdem er im November 2015 seine Frau Hélène Muyal-Leiris durch das tödliche Bataclan-Attentat verloren hatte. Hier zeigt sich jene andere Macht, die aus der Verwundbarkeit zu wachsen vermag. Trotz zerreißender Schmerzen setzt sie nicht auf Rüstung, Hass und Waffen. Sie geht nicht in den Angriffsmodus. Hass und Gewalt sind stark. Noch stärker aber ist es, ihnen zu widerstehen.