Unterwegs auf riskanten Pfaden der Hoffnung
22.12.2022Prof. Dr. Hildegund Keul hat in der Wochenzeitschrift "Christ in der Gegenwart" (CIG) einen neuen Artikel zu riskanten Pfaden der Hoffnung veröffentlicht.
Unterwegs auf riskanten Pfaden der Hoffnung
Weihnachten steht für den Glauben an ein Leben in Fülle, die sich mitten in der Zerrissenheit der Welt ereignet und über sie hinausführt. Es will gewagt sein. VON HILDEGUND KEUL
Die biblischen Geschichten von der Geburt Jesu erzählen, wie leidenschaftlich und hingebungsvoll jene Menschen leben, die zur Krippe kommen. Sie sind unterwegs auf riskanten Pfaden der Hoffnung. Sie könnten einen Weg wählen, der leichter und bequemer erscheint. Aber mit allem, was sie haben, stellen sie sich in den Dienst des Lebens. Dabei werden sie unausweichlich mit der menschlichen Verwundbarkeit konfrontiert. Wie gehen sie damit um?
Weihnachten in Zeiten des Kriegs
Die weihnachtliche Frage nach Leidenschaft und Hingabe, Hoffnung und Verwundbarkeit hat in diesem Jahr neue Bedeutung gewonnen. Die Menschen in der Ukraine stehen vor einem Weihnachtsfest mitten im Krieg, der die Realität menschlicher Grausamkeit und Bosheit offenbart. Putins Kriegsterror versucht, das Land in Dunkelheit zu stürzen, damit es in Verzweiflung versinkt. Auch die Menschen, die geflohen sind und bei uns Zuflucht finden, können sich nicht zurücklehnen und einfach das Leben genießen. Viele von ihnen wollten lieber in ihrer Heimat bleiben, sind dann aber geflohen, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Für sie beginnt jeder Tag mit der bangen Frage, ob ihre Lieben, die sie in der Heimat zurücklassen mussten, überhaupt noch leben oder ob sie unter Trümmern begraben sind, tot oder lebendig. Die alten Eltern, die zu schwach oder krank sind für eine Flucht; die Verwandten, die plötzlich Soldat oder Soldatin werden mussten; die erwachsenen Kinder, die sich freiwillig im Lazarett, bei der Rettung von Menschen aus den Kriegstrümmern, bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen und in der Versorgung von (Schwer-)Verletzten engagieren.
Aus dem Zweiten Weltkrieg ist bekannt, dass Weihnachten in Zeiten des Krieges auf besondere Weise gefeiert wird. Besonders nachdenklich. Besonders intensiv. Besonders schmerzlich. Vielleicht sogar besonders euphorisch. Die Ukrainerinnen, die ich seit März dieses Jahres unterstütze, haben schon Mitte Dezember ihren Weihnachtsbaum aufgestellt und reich geschmückt. Der Krieg ist kein Grund, das Fest in diesem Jahr zu streichen. Vielmehr ist er ein Lackmustest, ob Weihnachten in den Abgründen des Lebens Bestand haben kann. Rührt Weihnachten an die Tiefendimension menschlichen Lebens? Was hat das Fest zu sagen, wenn man vom Krieg aus auf die biblischen Erzählungen schaut?
Die Geburt Jesu – riskante Pfade
Die Geburt Jesu war für die Menschen, die mit ihm verbunden waren oder mit ihm in Berührung kamen, kein Zuckerschlecken. Sie erforderte die Bereitschaft, sich auch dann in den Dienst des Lebens zu stellen, wenn dies riskant ist und Gefahren mit sich bringt. An erster Stelle steht für diese Bereitschaft, hingebungsvoll zu leben, Maria. Sie geht das Wagnis ein, in einer völlig ungesicherten Situation ein Kind zur Welt zu bringen, das sie in große Schwierigkeiten stürzen wird. Der gewagte Weg durch das Bergland von Judäa, als die Schwangere zu ihrer Verwandten Elisabeth aufbricht; ihr gefährlicher Zustand als Verlobte, die nicht weiß, ob der Mann zu ihr stehen wird; die riskante Outdoor-Geburt ohne die Sicherheit eines Zuhauses und die Unterstützung von Verwandten. Das alles ist heutzutage gut bekannt. Aber auch Josef zeigt eine erstaunliche Seite, wenn man ihn nach seiner Bereitschaft befragt, auf riskanten Pfaden unterwegs zu sein.
Josef bückt sich
Josef ist nach biblischer Darstellung nicht unbedingt der biologische, sehr wohl aber der soziale Vater Jesu. Anfangs hat er zwar Schwierigkeiten mit der prekären Rolle, die ihm die Geburt Jesu zumutet. Aber nachdem ein Engel ihn überzeugt hat, macht er sich auf den Weg und engagiert sich hingebungsvoll. Mit größter Selbstverständlichkeit teilt er mit der Mutter und dem Neugeborenen alles, was er zum Leben hat. In einem ungewöhnlichen Gemälde mit dem Titel „Die Geburt Christi“ (1404) führt Conrad von Soest dies anschaulich vor Augen. Maria liegt dort – nicht ganz biblisch – auf einer Art Kanapee, um sich von der Geburt auszuruhen. Auch Josef macht etwas ganz Praktisches: Er kocht der jungen Mutter ein Essen. Dazu muss er sich ganz tief bücken, bis runter auf den Boden, um mit seinem Atem ein Feuer in Gang zu halten. Seine Körperhaltung zeigt: Josef ist hingebungsvoll bei der Sache. Er stellt sich ganz in den Dienst dessen, was hier und jetzt getan werden muss. Dabei ist es ihm egal, dass manche vielleicht die Nase rümpfen und sagen würden, das alltägliche Kochen sei nicht Männersache. Auch dass sein Bart dem Feuer gefährlich nah kommt, kümmert ihn nicht. Hauptsache, das Essen gelingt und stärkt die Frau im Wochenbett. Aber der weihnachtliche Einsatz Josefs ist nicht nur engagiert, sondern auch noch riskant. Dies wird deutlich, als König Herodes den Säugling ausfindig machen will und ihm nach dem Leben trachtet. Das ist für den Zimmermann und für seine Verlobte Maria lebensgefährlich. Spätestens jetzt könnte Josef sagen: Es ist nicht mein Kind. Ich mache mich vom Acker. Er könnte sich schnellstens in Sicherheit bringen, indem er die beiden verlässt. Aber das Gegenteil ist der Fall. Tatkräftig steht er zu ihnen, gerade in gefährlicher Zeit. „Da stand Josef in der Nacht auf und floh mit dem Kind und dessen Mutter nach Ägypten“ (Mt 2,14).
Die Flucht ist ein Akt des Widerstands gegen einen Tyrannen, der den Neugeborenen töten will. Bedenkenlos riskieren Maria und Josef ihr eigenes Leben. Als sie aufbrechen, sitzen ihnen die Häscher des Herodes im Nacken. Das fördert nicht gerade den Schlaf. Ständig müssen sie auf der Hut sein vor Gefahren, die im Verborgenen lauern. Aber auch wenn die Flucht gelingt, werden sie in Ägypten Fremde sein, Habenichtse, die schief angeschaut und einer Hermeneutik des Verdachts unterworfen werden. Freiwillig gehen Maria und Josef diesen riskanten Weg, um dem neugeborenen Kind einen Start ins Leben zu ermöglichen. In sozialer Hinsicht erweist sich Josef wahrhaft als Vater, indem er sich rückhaltlos in den Dienst des noch ganz jungen Lebens stellt.
Ein Stern, der den Karren des Lebens zieht
Auch die Sterndeuter sind auf riskanten Pfaden unterwegs, als sie „aus dem Osten“, in der Nähe von Euphrat und Tigris, über Jerusalem nach Betlehem kommen. Etwa eintausend Kilometer durch unwegsames, teils gefährliches Gebiet. Sie stehen für den überaus ungewissen Aufbruch ins Unbekannte. In ihrer Heimat genießen die „Magier“ (Mt 2,1–12) großes Ansehen und ein gutes Auskommen. Als Seismographen der Veränderung deuten sie die Zeichen der Zeit und nutzen ihren politischen Einfluss. Aber je weiter sie die Grenzen ihrer Heimat hinter sich lassen, desto weniger gilt ihr Ansehen. Kann man ihnen vertrauen? Vielleicht hat man es mit Scharlatanen zu tun? Die Angesehenen werden zu Fremden in fremdem Land, zu Dahergelaufenen, für die niemand bürgt. Das bringt sie in Gefahr. Wenn die Häscher des Herodes sie umbringen, würde kein Hahn nach ihnen krähen.
Nach biblischer Erzählung sind die Magier keine Könige; die Dreizahl ist spätere Erfindung; und selbst ob es nur Männer waren, bleibt rein spekulativ. Aber eines ist klar: Sterndeuterinnen und Sterndeuter sind Menschen, die etwas wagen. Die sich auf gefährliche Wege trauen, weil sie etwas dazu verlockt. „Bind deinen Karren an einen Stern!“, soll Leonardo da Vinci empfohlen haben. So folgen sie einem Stern, der sie anzieht, nicht mehr loslässt und zum Aufbruch bewegt. Es läuft sich leichter mit einem Ziel vor Augen, das leuchtet, motiviert und damit „anziehend“ wirkt.
Die Menschen, die zur Krippe kommen, setzen ihre Hoffnung darauf, dass der Lebensverlust, den sie riskieren, einen Lebensgewinn erzielen wird. Das gilt auch für die Hirten, die des Nachts zur Krippe „eilen“, deswegen ihre Schafe zurücklassen müssen – und damit alle Ressourcen riskieren, aus denen sich ihr Leben speist. Es wäre keine Hoffnung, wenn sienicht scheitern könnte. Dieses Kind soll leben. Und es soll einen möglichst guten Start ins Leben haben, auch wenn dies einen selbst etwas kostet. Wie es in Bachs Weihnachtsoratorium heißt: „Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s wohlgefallen.“ Pfade der Hoffnung sind immer gefährlich. Sie wollen couragiert gegangen werden, denn Hoffnung fordert zum Handeln heraus.
An der Krippe stehen – die Mystik von Weihnachten heute
Weihnachten ist keine Idylle, weder biblisch noch in heutiger Zeit des Krieges. Das Fest richtet sich vielmehr an all jene, die unterwegs auf brüchigen Pfaden bereit sind, sich in den Dienst des Lebens zu stellen. Die Intensität des Lebens erschließt sich nicht, wenn man sich hinter hohen Mauern verschanzt und sich die gefährlichen Turbulenzen des Lebens vom Hals hält. Vielmehr fließt sie dort zu, wo Menschen sich für ihre Nächsten öffnen, wo sie berührbar werden für die Nöte und die Hoffnungen der Fremden, und wo man sich vielleicht auch angreifbar macht in zwischenmenschlichen Konflikten. Die Liebe, welche die Hoffnung zum Tätigkeitswort macht, ist immer eine gewagte Sache.
Nicht zufällig lauten die Lieblingsworte der Engel „Fürchtet euch nicht!“. Die Menschen, die damals zur Krippe kamen, hatten allen Grund zu Angst und Sorge. Aber dann kam jener eine Moment, für den sich all die Strapazen lohnen: Im Blick auf das Kind in der Krippe verlieren die Sorgen und Nöte ihre Bedrängnis. Die Eltern, die Hirtinnen und Hirten und jene, welche die Sterne zu deuten verstehen – alle sind präsent, ganz da, ganz wach und lebendig bis in die Fingerspitzen. Und plötzlich fließt die Fülle des Lebens zu. Mitten in der Verwundbarkeit, die sich so schmerzlich bemerkbar macht, offenbart sich im neugeborenen Kind die Kostbarkeit des Lebens. So wird die Krippe zu einem Ort voller Leben, der Liebe, Glück und Geborgenheit schenkt.
Dieser eine Moment, in dem alle Zeit der Welt zusammenfließt in einem Augenblick, setzt auch heute noch den Zauber von Weihnachten frei. Für viele Menschen ist das vielleicht der Moment, wenn in der Christmette „Stille Nacht“ gesungen wird. Wegen seines mystischen Gehalts hat das Christentum die Geburt Jesu zu einem großen Fest gestaltet. Das macht Weihnachten auch heute noch faszinierend – die Hoffnung auf Leben in Fülle, die nicht aus dieser Welt herauskatapultiert, sondern sich mitten in ihrer Zerrissenheit ereignet und über sie hinausführt. Die Hoffnung auf ein Glück, das sich mitten im Schmerz einstellt. Gerade in einer Zeit des Krieges ist das Weihnachtsfest gefragt. Mit seiner Erfahrung der Fülle des Lebens stärkt es den Mut, sich auf die riskanten Pfade der Hoffnung zu wagen. In diesem Sinn haben wir dieses Jahr allen Grund, einander und insbesondere den Ukrainerinnen und Ukrainern, die bei uns Zuflucht suchen, von Herzen ein frohes Fest zu wünschen, das ermutigt und stärkt.
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