Glaubensfrage - Die Welt von Lascaux
11.09.2020Kolumne von Hildegund Keul, Theologin und Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg, in der österreichischen Wochenzeitschrift „Die Furche“
Pferde, Auerochsen, Hirsche, Bisons und Rentiere stürmen über die Felswände, kraftvoll, schnell und unbesiegbar. Diese überbordende, bewegte Tierwelt in bunten Farben malten Menschen vor etwa 20.000 Jahren. Vor genau achtzig Jahren, am 12. September 1940, kletterten drei junge Männer aus dem Südwesten Frankreichs erstmals in die Höhle von Lascaux. Abbé Breuil, Priester, Jesuit und ehrfurchtsvoll „Papst der Prähistorie“ genannt, nahm die „Sixtinische Kapelle der Frühzeit“ wenige Tage später in Augenschein.
Auch religionsgeschichtlich ist die Höhle im Tal der Vézère aufschlussreich. Denn im „Schacht“, einem nur schwer zugänglichen Teil, versteckt sich eine rätselhafte Darstellung des Menschen. Neben einem Bison, von einem Speer tödlich getroffen und vor Wut tobend, liegt ein Mann. Eine Vogelmaske verbirgt sein Gesicht. Das Merkwürdigste: Gezeichnet wurde er mit nur wenigen Strichen und ganz in Schwarz. Kein vor Leben strotzendes Wesen, sondern ein Strichmännchen“, wenn auch mit erigiertem Penis. Der Moment des Todes, der ohnmächtig macht und zugleich das Leben bejaht?
Von diesem Moment ausgehend zeigt sich Religion als „Suche nach der verlorenen Intimität des Lebens“ (Georges Bataille). Die Menschheit schafft die profane Welt, um sich gegen die Gewaltsamkeit der animalischen Kraft zu wehren: Sie erfindet Werkzeuge, beginnt zu arbeiten und setzt auf ihren Verstand. Alles wird ihr zum Gegenstand, am Ende sie selbst: „Der, der den Weizen anbaut, ist kein Mensch: Er ist der Pflug dessen, der das Brot isst.“ Die profane Welt schneidet von der Intimität des Lebens ab. Daher brauchen Menschen zugleich jene andere Welt, die Welt des Heiligen, wo nicht Sparsamkeit und Effizienz herrschen, sondern Verschwendung. Die Welt der Feste, der Rituale und des überbrausenden Lebens. Die Welt von Lascaux.