Intern
Lehrstuhl für Kirchenrecht

„Fragile Ordnung. Soziologische Beobachtungen zur kirchlichen Rechtswirklichkeit“

26.01.2021

Bericht zum Online-Gastvortrag von Frau Prof. Dr. Judith Hahn

Am 26. Januar 2021 begeisterte Frau Professorin Dr. Judith Hahn, Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Ruhr-Universität Bochum, mit einem Online-Gastvortrag zum Thema „Fragile Ordnung. Soziologische Beobachtungen zur kirchlichen Rechtswirklichkeit“ ihr interessiertes Publikum mit Zuhörerinnen und Zuhörern aus ganz Deutschland und Österreich. Prof. Dr. Martin Rehak hatte die Veranstaltung organisiert, nachdem Frau Prof. Hahn bereits 2019 ihre Monographie „Grundlegung der Kirchenrechtssoziologie. Zur Realität des Rechts in der römisch-katholischen Kirche“ veröffentlicht hatte. In dieser Studie schlägt die Autorin eine interdisziplinäre Brücke zwischen Soziologie und Kirchenrechtswissenschaft und wirft dabei einen kritischen Blick auf die Realität des Rechts in der katholischen Kirche.

Im ersten Teil des Abends stellte die Referentin in ihrem Vortrag zunächst wichtige soziologische Kategorien und Erkenntnisse zur Frage der Wirksamkeit bzw. Nichtwirksamkeit und der Folgen des Wirkungsverlusts von Recht im Allgemeinen heraus. Dabei erläuterte sie verschiedene rechtssoziologische Dimensionen der Wirksamkeit von Recht und betonte, dass sich die Wirksamkeit von Rechtsnormen an deren freiwilliger oder mittels Sanktionen eingeforderter Befolgung zeige. Mit Niklas Luhmann kategorisierte Frau Prof. Hahn sodann mögliche Wirkungsprobleme aufgrund der Effekte von Inflation und Deflation von Recht innerhalb einer Rechtsgemeinschaft. Die darin angelegte Problematik, dass die Erwartung an und die Bereitschaft zur Verfolgung von Normen innerhalb einer solchen Gemeinschaft abnehmen und Recht somit wirkungslos werden kann, zeigte die Referentin dann anhand verschiedener Beispielen im Bereich des Kirchenrechts auf. Das kirchliche Recht enthalte zahlreiche Ver- und Gebotsnormen, deren Nicht-Befolgung nicht sanktioniert werde und nur von individuellen Entscheidungen abhänge. Das kirchliche Recht habe sich, gemessen an der Prägung der Gläubigen in westlichen Demokratien, von den im staatlichen Recht grundlegenden Garantien von Freiheitsrechten abgekoppelt. In globaler Betrachtung käme es zudem auch zu kulturellen Dissonanzen zwischen dem kirchlichen Recht und anderen, nicht aus dem römischen Recht heraus entstandenen Rechtskulturen. Anhand dieser Beispiele zeigte Prof. Hahn auf, dass das Abweichen von kirchenrechtlichen Normen sich bereits strukturell verfestigte habe. In den darauf folgenden kanonistische Problemanzeigen knüpfte die Referentin an Ergebnisse der rechtssoziologischen Forschung von Simon Hecke und dessen Untersuchung „Kanonisches Recht. Zur Rechtsbildung und Rechtsstruktur des römisch-katholischen Kirchenrechts“ (2017) an. Dabei problematisierte Frau Prof. Hahn unter anderem, wer die Trägergruppe des Kirchenrechts sei und inwiefern das kanonische Recht in seiner geltenden Form faktisch immer noch ein Klerikerrecht sei. Als solches würde Kirchenrecht nicht als vom Willen aller Mitglieder getragen verstanden werden und seinen eigentlichen Rechtscharakter hauptsächlich nur bei kirchlichen Amtsträgern entfalten. Unter Verweis auf die Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Lumen gentium, Art. 8, wonach die Kirche immer auch eine in der Welt sichtbare Gemeinschaft ist, beschloss Prof. Hahn ihren Vortrag mit der Anfrage, ob und wie die Kirche in ihrer rechtlichen Struktur auf diese rechtssoziologischen Problemanzeigen reagieren könne.

Im Anschluss an diesen sehr kurzweiligen Vortrag von Frau Prof. Hahn ergriffen einige Gäste die Gelegenheit, um mit der Referentin ins Gespräch zu kommen und sich über ihren Ansatz und ihre Thesen auszutauschen. Nicht nur Kolleginnen und Kollegen aus der wissenschaftlichen Kanonistik, sondern auch Praktiker des Kirchenrechts und Studierende brachten ihre Perspektiven, Fragen und Vorschläge ein. Dabei galt der Austausch unter anderem den Fragen, wie Kirchenrecht in einer sich pluralisierenden Kirche und Gesellschaft legitimiert werden könne; in welcher Form das kirchliche Recht mit Blick auf die Garantie von Freiheitsrechten weiterentwickelt werden könne; und wie die sozialstrukturierende Funktion des Rechts in der Kirche gestärkt werden könne.

Der Lehrstuhl für Kirchenrecht dankt Frau Professorin Dr. Judith Hahn ganz herzlich dafür, dass Sie Ihre Forschung zur Soziologie des Kirchenrechts im Rahmen des Online-Gastvortrages vorgestellt und sich mit viel Freude und Zugänglichkeit auf die Fragen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen eingelassen hat. Zudem danken wir den vielen Gästen für ihr Interesse und ihre rege Beteiligung am Gespräch mit der Referentin.

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