Wiedereröffnung Neumünster
24.06.2009Einige liturgiewissenschaftliche Anmerkungen von Prof. Dr. Stuflesser anlässlich der Wiedereröffnung der Neumünsterkirche
„In Würzburg ruht der heilge Mann mit den Gefährten lobesam...“
Das Neumünster in Würzburg als liturgischer Raum im Spannungsfeld von historischer Raumgestalt und gefeierter Liturgie
(Martin Stuflesser, Würzburg)
1 Das Neumünster – vielfältige Anforderungen an einen liturgischen Raum
Prächtig, einem barocken Hochaltar gleich, erhebt sich die rote Fassade des Neumünsters in der Würzburger Fußgängerzone. Vielfach konnte man in den vergangenen Monaten Gruppen von Touristen dabei beobachten, die sich dem imposanten Eingang der Kirche näherten, und sich dann enttäuscht abwandten: Schilder wiesen darauf hin, dass die Kirche wegen Renovierungsarbeiten bis Mitte 2009 geschlossen sei.
Wenn im Juni 2009 mit der feierlichen Altarweihe das Neumünster nach umfassender Renovierung und Restaurierung wiedereröffnet wird, so ist hiermit einer der bedeutendsten liturgischen Räume in Würzburg wieder zugänglich. Das Neumünster wird zugänglich für Pilger, welche an die Grabstätte der Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan kommen, deren Gebeine in der Kiliansgruft aufbewahrt und verehrt werden. Es wird zugänglich für die Gläubigen der Dompfarrei, denen das Neumünster als liturgischer Versammlungsraum und Nebenkirche neben dem Kiliansdom dient. Es wird aber auch zugänglich für die vielen Kunstinteressierten, die im Neumünster den kunstgeschichtlich bedeutsamen Kirchbau besichtigen und bestaunen wollen. Diesen sehr unterschiedlichen Ansprüchen wird das Neumünster gerecht werden müssen.
Hinzu kommt, dass alleine auf dem Gebiet der Liturgie und der gottesdienstlichen Vollzüge in Zukunft höchst unterschiedliche Feierformen in diesem einen, architektonisch gezonten und gestalteten Raum vollzogen und gefeiert werden: Vom sonntäglichen Gottesdienst der Dompfarrei, über die Werktagsmessen in der frühromanischen Ostkrypta und die dort stattfindende eucharistische Anbetung, hin zu Formen der Tagzeitenliturgie im Hochchor im Chorgestühl, bis zur Wallfahrt der Kreuzbruderschaft zum Kreuzberg in der Rhön mit der Verehrung der Figur Christi mit den verschränkten Armen in der Rotunde, schließlich hin zur Verehrung der Frankenapostel, besonders in der Kiliansoktav, um nur einige liturgische Akzente zu nennen. (Formen der Privatfrömmigkeit, dass Menschen in der Hektik und im Lärm der Innenstadt im Neumünster einen Ort der Stille, der Sammlung und des Gebets suchen werden, sind nicht weniger bdeutsam und treten hinzu.)
All diesen höchst unterschiedlichen liturgischen Feierformen bietet das Neumünster Raum. Insofern erscheint es sinnvoll, sich hier noch einmal zurück zu besinnen auf einige grundlegende Fragen: Was ist überhaupt ein liturgischer Raum? Welche Funktionen erfüllt er? Welchen „Mehrwert“ hat er? Die hier vorgelegten Überlegungen sind eher allgemeiner theologischer Natur – ich werde jedoch versuchen, sie an entsprechender Stelle auf das Neumünster hin zu konkretisieren.
2 Annäherungen an die Frage: Was ist ein liturgischer Raum?
Was meinen wir eigentlich, wenn wir den Begriff liturgischer Raum verwenden? Bilder von den letzten Weltjugendtagen in Köln und Sydney oder von den Katholikentagen zeigen uns, dass gottesdienstliche Versammlungen durchaus auch im Freien stattfinden können. In der medialen Wirklichkeit ist in diesen Tagen mehr von der Aufgabe gar vom Abriss von Kirchenräumen die Rede, denn von deren Neubau oder deren (Kirch-)Weihe. Inwiefern ist dann ein liturgischer Raum überhaupt notwenig?
Nähern wir uns also dem Phänomen des liturgischen Raums in zwei Schritten: Zunächst mit einigen anthropologischen Überlegungen, dann, in einem zweiten Schritt, mit einer Klärung der theologischen Begrifflichkeit:
Im Wort Raum klingt das Tätigkeitswort „räumen“ mit an. Einen Raum, etwa: eine Lichtung im Walde schaffen für eine Ansiedlung - das ist ursprünglich gemeint. Ein Raum ist also in diesem Sinne nicht einfach vorhanden, sondern er wird erst durch eine konkrete menschliche Tätigkeit geschaffen und gewonnen, indem man ihn etwa durch Rodung der Wildnis abgewinnt (einer Wildnis, die man eben vorher nicht als Raum wahrnimmt oder bezeichnet.)
Wenden wir diese Überlegungen auf den Kirchenraum an, so lässt sich auch hier grundsätzlich festhalten, dass das Raum-Schaffen, das Bauen eine menschliche Grundtätigkeit ist. Reden wir vom Kirchenraum, so lässt sich sagen, dass sich im Bau eines Heiligtums der Glaube am überzeugendsten, auf sinnlich wahrnehmbare Weise manifestiert.
Der Mensch bringt hier alle seine Fähigkeiten ein und unternimmt dabei sogar den Versuch, durch sein Werk sich selbst zu übersteigen. Der Mensch sucht Kontakt mit dem Bereich des Göttlichen zu gewinnen und er tut dies, indem er dem Göttlichen einen Raum schafft: Das Transzendente/Unverfügbare soll immanent im geschaffenen Raum erfahrbar werden. Wenn der Mensch baut, bringt er so seine Ordnungsvorstellungen, also das, was ihm etwas wert ist, zum Ausdruck. Das gilt für den antiken Tempel ebenso wie für die gotische Kathedrale wie für heutige Shopping-Malls (die modernen „Kathedralen“ des Konsums).
Wenn wir einen liturgischen Raum schaffen, sei es, dass wir ihn neu bauen, sei es, dass wir ihn renovieren oder umgestalten, bedeutet dies darum immer, dass dieser Raum inhaltlich aufgeladen ist. Es gilt, einen Raum zu suchen und zu gestalten, in dem der Mensch zu seinem Gott finden kann, um mit ihm in Verbindung zu kommen und dadurch Heil zu erlangen.
Damit wird aber auch verständlich, dass die Kirche wie jeder Kultbau einen über die rein praktische Raumnutzung hinausgehenden „Mehrwert“ hat. Dieser Mehrwert bliebe uns freilich verschlossen, betrachteten wir eine Kirche etwa nur unter dem Blickwinkel reiner Funktionalität. Kirchen sind mehr als reine Funktionsräume, und dieses „Mehr“ versuchen wir mit dem Wort „sakral“ mühsam, fast stammelnd in Worte zu fassen. So betont auch die Liturgiekonstitiution Sacrosanctum Concilium, in Nr. 122, dass „die Dinge, die zur heiligen Liturgie gehören, wahrhaft würdig seien, geziemend und schön: Zeichen und Symbol überirdischer Wirklichkeiten.“ So heißt es im Weihegebet der Kircheweihe, die Kirche ist Gottes „Zelt unter den Menschen, der heilige Tempel, erbaut aus lebendigen Steinen, gegründet auf das Fundament der Apostel; der Eckstein ist Jesus Christus.“
Deshalb tut es uns fast schon körperlich weh, wenn wir den Abriss einer Kirche im Fernsehen sehen, ihn gar live erleben müssen, weil hier, an diesem konkreten Ort, Menschen ihren Glauben in Stein gegossen haben: Sie haben in dieser kunstvollen Anhäufung aus Steinen einen bergenden Raum gefunden, in dem sie ihren Glauben bekannt haben, sie haben in diesem Raum gehofft und gebetet, sie haben gefeiert und gesungen, sie haben geweint und getrauert – all dies getragen und unterfangen von jenem Gott, auf den sie ihre Hoffnung gesetzt und dem sie im Bau dieses liturgischen Raumes ein Denkmal errichtet haben.
Als Würzburg am 16. März 1945 so stark zerstört wurde, war das Neumünster im Vergleich zum Dom, der Kathedrale des Bistums, relativ weniger stark beschädigt. So konnten Chor und Langhaus schon nach dem Richtfest im Oktober 1945 partiell wieder als liturgischer Raum verwendet werden und das Neumünster diente gar von 1950 bis zur Wiedereinweihung des Domes im Jahr 1967 als Kathedrale des Bistums. Auch dies ist ein frömmigkeitsgeschichtlich bedeutender (emotional aufgeladener) Mehrwert, mit dem der liturgische Raum Neumünster „aufgeladen“ ist.
Nun ist jedoch von Seiten der Theologie zu fragen: Wer ist dieser Gott, dem Menschen hier einen Raum schaffen? Glauben wir im Christentum an einen (transzendenten) Schöpfergott, der in Christus Mensch geworden ist (Stichwort: Inkarnation) und die Welt angenommen hat, so führt dies auch zu einer neuen Sicht auf die Welt insgesamt: In dieser von Gott ins Dasein gerufenen und von ihm getragenen Schöpfung kann es keine Gegenüberstellung mehr von sakral und profan geben. Gott hat die ganze Welt, all ihre Ordnungen und Strukturen erschaffen, weshalb es nicht mehr möglich, „ansich“ heilige Orte zu unterscheiden vom Bereich des Alltäglichen, in welchem die Macht Gottes weniger offenbar und wirksam würde. Gott ist Mensch geworden, er ist in Jesus Christus in die Welt eingegangen und hat die Welt dadurch geheiligt. Das im NT grundgelegte Verständnis von Sakralität erlaubt es nicht mehr, irgendein Geschöpf als „ansich“ heilig zu betrachten, andere dagegen als „ansich“ unheilig oder profan.
Heiligkeit bzw. Sakralität entsteht demnach in der positiven Hin- und Zuordnung auf Gott und die Ordnung, die Gott seiner Schöpfung gegeben hat. Sakralität ist daher aus theologischer Perspektive zunächst eine personale Kategorie, und nur davon abgeleitet kann sie auch auf Dinge angewandt werden: Ein Ort oder Raum hat nicht aus sich selbst heraus sakrale Bedeutung, sondern der liturgische Raum gewinnt Sakralität, weil er in Anspruch genommen wird für die Begegnung mit dem heiligen und lebendigen Gott. Der kirchliche Raum wird also gerade nicht „ansich“, als Gegenstand, durch die Feier der Kirchweihe zu einem heiligen sakralen Gebäude. Vielmehr heiligt die Feier der Gemeinde den Raum! Bezeichnenderweise existiert ja auch das Wort der „Kirchweihe“ nur im Deutschen, während es im Lateinischen schlicht „dedicatio“ heißt, also soviel wie Einweihung, Inbetriebnahme. Der Kirchraum, der Altar wird geheiligt durch die erste Feier der Eucharistie. Eben durch die Begegnung mit dem heiligen und lebendigen Gott.
3 Was ist eine Kirche? – Die Entwicklung gottesdienstlicher Räume von den Anfängen bis zum II. Vatikanischen Konzil
Schon im NT finden wir das Bauen als ein Bild für die christliche Gemeinde. Allerdings verwendet das NT hier das Bild des „Hauses aus lebendigen Steinen“ (1 Petr 2,5), und gerade nicht das Bild des Tempels, um die Wirklichkeit der christlichen Gemeinde zu beschreiben. Der Hintergrund für eine Scheu vor allen kultischen Bildern und Metaphern liegt sicher im Handeln Jesu und seiner prophetischen Kultkritik auch und gerade am Jerusalemer Tempel begründet.
Spricht das NT von einem Gebäude aus lebendigen Steinen, so wird die Idee des Bauens zunächst spiritualisiert. Der neue Raum aus lebendigen Steinen ist die Kirche als Versammlung der Gläubigen. Sie selbst bildet den neuen Tempel, in dem der Hl. Geist wohnt (vgl. 1 Kor 3,16). Das primäre Bild, in dem sich das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde ausdrückt, ist im NT das der Versammlung. Freilich ist diese Versammlung, trotz der fundamentalen Gleichheit aller Getauften, doch schon von frühester Zeit an strukturiert.
Diese strukturierte Versammlung, in der es besondere Aufgaben, Charismen und Dienste gibt, hat zur Konsequenz, dass die Eignung für eine solchermaßen strukturierte Versammlung die primäre Qualitätsanforderung an den liturgischen Raum darstellt. Betrachten wir die frühesten Zeugnisse solcher christlicher Versammlungsräume, so bestätigen diese unsere Einschätzung. Sicher spielte auch die allgemeine Situation der Märtyrerkirche in der Verfolgung eine Rolle, dass wir in den ersten Jahrhunderten eine große Zurückhaltung finden im Hinblick auf repräsentative Bauten. Doch sollten die theologischen Gründe nicht unterschätzt werden: Die schlichte christliche Versammlung aller Getauften zu einem Haus aus lebendigen Steinen ist das Gegenmodell zum heidnischen Tempel in all seiner Pracht.
Erst mit der neuen Situation, die in der frühen Reichskirche nach der konstantinischen Wende und später dann gar für das Christentum als Staatsreligion gegeben war, wandelt sich dieses Bild: Jene, die in der christlichen Gemeinde und der liturgischen Versammlung einen besonderen Dienst versehen, werden nun Staatsbeamte, sie repräsentieren diese Kirche auch nach außen hin, die christliche Gemeinde muss nach außen hin sichtbar werden, sich darstellen und repräsentieren im Kontext einer Vielzahl von Kulten und religiösen Möglichkeiten.
Dennoch ist sicher der Schritt von der Märtyrerkirche, die in den Katakomben und in Hausgemeinschaften ihr Versammlungen feiert, hin zur Reichskirche und dem frühen Mittelalter mit den prächtigen Versammlungsräumen der Basilika und der frühen Kathedralen gewaltig. Aber auch jene frühchristlichen Basiliken waren zunächst praxistaugliche Versammlungsräume, die gewählt wurden, weil sie in ihrer Form und Ausstattung den Bedürfnissen der christlichen Liturgie genügten. Somit gilt es festzuhalten, dass das Vorbild für den frühen Kirchbau gerade nicht der heidnische Tempel war, sondern die Basilika als Versammlungs- und Repräsentationsbauwerk. Diese Basilika ermöglichte in ihrer architektonischen Struktur, der liturgischen Versammlung einen Raum zu geben, wobei sich die Feier dieser Versammlung von zunächst sehr klar strukturierten, einfachen liturgischen Vollzügen zu immer komplexeren liturgischen Abläufen entwickelte.
Zwar gab es schon in diesen liturgischen Formen der Reichskirche und des frühen Mittelalters sich immer weiter ausdifferenzierende liturgische Dienste, dennoch steht hier die Einheitsidee, des einen Leibes Christi, der sich zur Liturgie versammelt, immer noch im Vordergrund. Und doch werden die liturgischen Dienste immer stärker zu „Spezialisten“: „Spezialisten“, die dann in einem abgetrennten Vorraum, der mehr und mehr zur Bühne wird, für das Volk agieren. Parallel dazu entwickeln sich im hohen Mittelalter Andachtsräume, die der privaten Frömmigkeit dienen: Seitenaltäre, Seitenkapellen.
Wir können sagen: Der liturgische Raum unterliegt zunehmend einer gewissen Eigendynamik, die freilich in enger Verbindung zu sehen ist mit der Entwicklung der Liturgie insgesamt. Im strengen Sinne liturgische Vollzüge, also Feiern der gesamten Kirche, werden ergänzt durch private Andachtsformen und der liturgische Raum antwortet auf diese Erfordernisse, indem er all diesen Formen multifunktional einen Raum bietet. Dieser Trend hin zu subjektiven Frömmigkeitsformen wird zwar im Spätmittelalter (etwa ausgelöst durch Kritik der Reformatoren) hinterfragt, und das Barock antwortet hierauf auch mit der neuen Konzeption eines Einheitsraumes. Dieser Einheitsraum des Barock wird wieder auf seine Hauptfunktion (den Hauptaltar) ausgerichtet, bietet jedoch immer noch Platz für liturgische Nebenschauplätze (die Seitenaltäre, und sonstige Orte privater Devotion). Dennoch bleibt auch in dieser Zeit - bis eigentlich in die Neuzeit hinein - das Geschehen weniger an der gemeinsam gefeierten Liturgie ausgerichtet, sondern beide Vollzüge, die offizielle Liturgie und die Privatfrömmigkeit laufen parallel nebeneinander her. Interessant ist freilich das Phänomen, dass auch diese Vollzüge der Privatfrömmigkeit durchaus gemeinschaftlichen Charakter haben können: das Rosenkranzgebet, Kreuzweg, Prozessionen, Wallfahrten und Andachten.
Zur Zeit der katholischen Aufklärung versucht man den Gemeinschaftscharakter wiederum zu stärken, streicht jedoch – in einer gewissen bilderfeindlichen Grundintention – vielfach ausgerechnet jene Elemente der Liturgie, die diesen Gemeinschaftscharakter zum Ausdruck bringen wollen. Im 19. Jahrhundert zitiert dann der Historismus wieder verstärkt die mittelalterliche Formensprache, allerdings nicht in ihrer Differenziertheit, sondern man verbindet den barocken Einheitsraum mit Stilelementen aus Romanik und Gotik, und bleibt damit eigentlich der spätestens seit dem Konzil von Trient vorgegebenen Linie treu.
Wenn nachfolgend die Liturgische Bewegung diesen gemeinschaftlichen Charakter der liturgischen Versammlung wieder aufgreift (Stichwort: „Gemeinschaftsmesse“), so lässt sich dies auch in den entsprechenden Modellen für den liturgischen Raum ablesen. Die Gemeinde der Getauften versammelt sich um den Altar, der Gemeinschaftscharakter der Liturgie steht im Mittelpunkt, Vorsteher und liturgische Dienste bilden, zugleich einbezogen in das Gesamt der Gemeinde und doch auch als deren Gegenüber, mit der versammelten Gemeinde eine spannungsvolle Einheit.
Diese wenigen Anmerkungen zur geschichtlichen Entwicklung des liturgischen Raumes, die keinesfalls Vollständigkeit beanspruchen können und wirklich nur grobe Linien ziehen wollen, machen deutlich, dass die konkrete Form der liturgischen Versammlung und der Raum, der diese Versammlung birgt, aufs Engste zusammenhängen.
4 Konsequenzen aus der liturgischen Erneuerung durch das II. Vatikanische Konzil für den liturgischen Raum heute
Wir haben gesehen: Die konkrete Gestaltung des liturgischen Raums bildete und bildet zu allen Zeiten der Kirchen- und Liturgiegeschichte das ab, was in der jeweiligen Epoche unter „Liturgie“ verstanden und wie diese gefeiert wurde. Anders formuliert: Ein Blick in die Liturgiegeschichte zeigt uns, dass in den je unterschiedlichen kirchengeschichtlichen Epochen, unter dem Begriff eines „idealen liturgischen Raumes“ sehr unterschiedliche Dinge verstanden wurden.
Ein Blick in das Neumünster zeigt uns, wie jede Epoche den liturgischen Raum neu den jeweiligen liturgischen Bedürfnissen angepasst hat: Von der ursprünglich sicher sehr schlichten Grablege für die Gebeine der Frankenapostel, über die Gründung des Stiftes im Jahr 1057 n.Chr. durch Bischof Adalbero, über die prächtige Umgestaltung im 17./18. Jahrhundert (J. Greising, J.B. Zimmermann), die Zeit des Verfalls nach der Säkularisation (1803) mit vorrübergehender Nutzung des Neumünsters als Munitionsdepot, bis zur Nutzung als Pfarrkirche (ab 1908), und dem Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg.
Wenn das Neumünster nun im Jahr 2008/09 einer umfassenden Sanierung und Restaurierung unterzogen wurde, so gelten für den liturgischen Raum aus der Perspektive des Liturgiewissenschaftlers zunächst die liturgietheologischen Vorgaben des II. Vatikanischen Konzils und der nachkonziliaren Dokumente.
Die Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Sacrosanctum Concilium, betont in Art. 42: „Beim Bau von Kirchen ist sorgfältig darauf zu achten, dass sie für liturgische Feiern und für die tätige Teilnahme der Gläubigen geeignet sind“.
Zwei Prinzipien werden hier genannt: Liturgische Räume sind Funktionsräume, die zunächst der liturgischen Feier zu dienen haben. Oberstes Prinzip ist es dabei, den Gläubigen, die an der Liturgie teilnehmen, die tätige Teilnahme an dieser Liturgie zu ermöglichen. Kurz auf den Punkt gebracht können wir sagen: Die Liturgie ist die eigentliche Bauherrin des kirchlichen Raumes.
So heißt es auch in der neuen Grundordnung für das Römische Messbuch: „Darum hat die Gesamtanlage des sakralen Gebäudes so zu sein, dass sie gewissermaßen das Bild der versammelten Gemeinschaft darstellt, auch allen ihre angemessene Zuordnung ermöglicht und es jedem leicht macht, seine Aufgabe in rechter Weise wahrzunehmen“ (GORM, Nr. 294).
Gegenüber einer über Jahrhunderte sich immer stärker manifestierenden Trennung zwischen den liturgischen Diensten auf der einen - und der Versammlung der Gläubigen auf der anderen Seite, was schließlich zur Herausbildung einer reinen Klerusliturgie führte, betont das Konzil stark, dass die Liturgie eine Feier der ganzen Gemeinde ist, wobei jeder all das, aber auch nur das tun soll, was ihm vom Wesen der Liturgie her zukommt (vgl. SC, Art. 26 u. 28).
Die Feier der Liturgie ist dabei Feier der Begegnung mit dem erhöhten Herrn, Jesus Christus, unter verschiedenen Zeichen und Handlungen (vgl. SC, Art. 7), wobei die liturgische Versammlung sogar die Grundgegenwartsweise seiner Gegenwart ist: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind ...“ (Mt 18,20). Deshalb gilt für den liturgischen Raum: Für Kirchen und alle anderen Orte, an denen Liturgie gefeiert wird, diese „haben also zum Vollzug der heiligen Handlung und für die eine tätige Teilnahme der Gläubigen geeignet zu sein“ (GORM, Nr. 288). Der Raum für den Gottesdienst ist demnach ein offener Handlungsraum um das Zentrum des Altares, der wiederum im Zentrum der Herrenmahlfeier steht. Inmitten der litugischen Versammlung finden sich auch der Ambo, von dem aus das Wort Gottes verkündigt wird, der Vorstehersitz, von wo aus die liturgische Versammlung geleitet wird, und der Taufbrunnen, an dem die Eingliederung in den Leib Christi, die Kirche, geschieht.
In der Grundordnung heißt es deshalb auch an entscheidender Stelle: „Obwohl all diese Dinge die hierarchische Ordnung und die Verschiedenheit der Aufgaben zum Ausdruck bringen müssen, haben sie doch eine ganz tiefe und verbindende Einheit zu bewirken, in der die Einheit des ganzen heiligen Volkes klar aufscheint“ (GORM, Nr. 294). Mit anderen Worten: Die Einheit des Volkes Gottes ist grundlegend gegenüber der Verschiedenheit und der Ausdifferenzierung unterschiedlicher liturgischer Dienste und der Orte, an denen diese Dienste vollzogen werden.
Dies bedeutet, dass an den liturgischen Raum zwei Grundanforderungen zu stellen sind: Der liturgische Raum entspricht der hierarchischen Gliederung des Volkes Gottes, aber er soll als einheitlicher Raum strukturiert sein. Diese Strukturierung des liturgischen Raumes ist gemäß der liturgischen Feier zu gestalten und muss funktionsgerecht sein.
Fassen wir diese Grundsätze noch einmal zusammen, so bedeutet dies: Im Raum der liturgischen Versammlung muss deren Ordnung erkennbar sein. Alle sollen ihren Platz haben (GORM, Nr. 294, 311). Der Bischof leitet den Gottesdienst von der Kathedra, der Priester vom Vorstehersitz (GORM, Nr. 310). Die liturgischen Dienste haben ihre Plätze an der Seite des Vorstehers, Kantor und Chor sind Teile der einen Gemeinde. Besonders bei den Plätzen für die Gläubigen darf es keinen Vorrang für Einzelne, etwa aufgrund ihres sozialen Standes geben, sondern die Plätze für die Gläubigen sollen die fundamentale Gleichheit aller Getauften zum Ausdruck bringen (GORM, Nr. 311).
Im Zentrum des liturgischen Raumes steht der Altar, auf ihm wird das Gedächtnis des Kreuzesopfers Jesu gefeiert, er ist der „Tisch des Herrn, an dem das Volk Gottes zusammengerufen wird“ (GORM, Nr. 296). Der Altar bildet das Zentrum der liturgischen Feier: er ist so aufzustellen, „dass er wahrhaft den Mittelpunkt bildet, dem sich die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung der Gläubigen von selbst zuwendet“ (GORM, Nr. 299). Auch soll es eigentlich in einem liturgischen Raum nur einen Altar geben, „der in der Versammlung der Gläubigen den einen Christus und die eine Eucharistie der Kirche bezeichnet“ (GORM, Nr. 303).
Der Ambo ist der Ort, an dem das Wort Gottes verkündigt wird, er soll so beschaffen sein, dass sich ihm „in der Liturgie des Wortes die Aufmerksamkeit der Gläubigen von selbst zuwendet“ (GORM, Nr. 309).
Verfügt der liturgische Raum über einen Ort für die Aufbewahrung der Eucharistie, so soll das Sakrament in einem Tabernakel „an einem äußerst vornehmen, bedeutenden, gut sichtbaren, geschmückten und für das Gebet geeigneten Teil der Kirche“ aufbewahrt werden. Die „Grundordnung“ empfiehlt hierfür einen eigenen liturgischen Ort, der „für die private Anbetung durch die Gläubigen und für das Gebet“ geeignet ist. Dieser Ort soll mit der Kirche „organisch verbunden und für die Gläubigen sichtbar sein“, er kann sich jedoch auch im Altarraum befinden, jedoch nicht auf dem Zelebrationsaltar (GORM, Nr. 315).
Für die Feier der Sakramente der Eingliederung in die Kirche dient entweder eine eigene Taufkapelle oder ein eigener Taufort im liturgischen Raum. Ein solches Taufbecken sollte auch die Möglichkeit bieten, die Taufe durch Ein- und Untertauchen vollziehen zu können. Ideal ist hierbei fließendes, „lebendiges“ Wasser. (Die Feier der Kindertaufe, 2. authentische Ausgabe 2007, Praenotanda generalia, 25*).
5 Das Neumünster als liturgischer Raum heute
Aus diesen theologischen Mindestanforderungen für den liturgischen Raum ergeben sich praktische Konsequenzen, die es zu bedenken gilt: Wenn wir einen alten, ehrwürdigen Kirchenraum wie das Neumünster umgestalten, dann gilt, dass der historische Kirchenraum zum einen ein Erinnerungsort ist für die gläubige Tradition, der Zeugnis gibt für den Glauben jener, die ihn errichtet haben, die hier gebetet und Gottesdienst gefeiert haben. Zum anderen ist dieser Raum aber auch der Lebensraum für die Gemeinde im Hier und Heute.
Mit den beiden wichtigen Aspekten „Denkmal“ und „Lebensraum“ ist zugleich die spannungvolle Situation umschrieben, in der sich heute viele Gemeinden befinden. Vor dem Hintergrund der aufgeführten Überlegungen, sollte klar sein, dass aus liturgietheologischer Perspektive der Lebensraum der heutigen Gemeinde die Priorität hat. Kirchen müssen liturgische Lebensräume sein und nicht bloß übrig gebliebene eingestaubte Denkmäler einer toten Vergangenheit. Wenn aber die Kirche Lebensraum für eine Gemeinde und ihre liturgische Feier im Hier und Heute sein will, dann ist es unerlässlich, Anpassungen vorzunehmen.
Das Neumünster ist in seiner neuen Gestalt nach der Renovierung/Restaurierung ein Beispiel einer solchen behutsamen Anpassung: Der Altar, an dem die Gemeinde zusammenkommt um das Herrenmahl zu feiern, ist in seiner neuen, von Jürgen Lenssen entworfenen Gestalt, sichtbarer Zielpunkt des Raumes. Die rote Farbe des Sandsteins erinnert an das Rot der Fassade, an das Rot als Farbe der Märtyrer, jener Frankenapostel also, über deren Gräbern in der Kiliansgruft wir das Gedächtnis von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi in der Eucharistie feiern.
Dabei finden sich in der Kiliansgruft auch die Gräber heutiger, zeitgenössischer Glaubenszeugen: die Gräber von Bischof Matthias Ehrenfried (Bischof in Würzburg zur NS-Zeit; +1948), von Weihbischof Karl Ebert (Bischofsvikar zu Zeiten der DDR für das Vikariat Meiningen; + 1974) und das Grab des Märtyrerpriesters Georg Häfner (+ am 20. August 1942 im Konzentrationslager Dachau).
Der Ambo bildet als Tisch des Wortes das optische Gegengewicht zum Altar – auf die Präsenz Jesu Christi in seinem Wort (SC, Art. 7) verweist auch schon eine Buchstehle mit der aufgeschlagenen Hl. Schrift am Eingang des Neumünsters: Der Glaube, den wir feiern, er kommt vom Hören des Wortes Gottes.
Der neugestaltete Taufort findet sich am Übergang von der Rotunde zum Langhaus – die Taufe (und davon abgeleitet das Taufgedächtnis) ist Schwellenritus im Hinblick auf die Feier der Eucharistie. Wenn wir uns an dieser Stelle mit geweihtem Wasser bekreuzigen, dann erinnert dies an die eigene Taufe: Als Getaufte haben wir Anteil am gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen. So sind wir eingeladen, das Gedächtnis des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus in der Feier des Paschamysteriums (SC, Art. 5) zu begehen. Die tätige Teilnahme an der Liturgie in Lobpreis und Anbetung Gottes ist für die Getauften dabei Recht und Pflicht zugleich (SC, Art. 14).
Der Hochchor mit dem Chorgestühl bietet Raum für Feierformen der Tagzeitenliturgie. Die christliche Gemeinde kann sich hier versammeln zur Feier des Tages-Pascha. Die Ostkrypta bietet zudem als Anbetungskapelle einen würdigen Rahmen für die Verehrung und Anbetung der Eucharistie.
Schließlich laden die vielfältigen Bildwerke ein zum Gebet und zur persönlichen Betrachtung: vom Kiliansschrein (H.G. Bücker/1986/87) in der Kiliansgruft, über die eindrückliche Darstellung des gekreuzigten Erlösers mit den verschränkten Händen (um 1350) im Kuppelraum, von den beiden Bildwerken von Ben Willikens in der rechten Kapelle am Eingang des Neumünsters, über die (den im Krieg verbrannten Originalen von Tillmann Riemenschneider) nachempfundenen Büsten der Frankenapostel (Heinz Schiestl), bis hin zu den modernen Gemälden von Thomas Lange (in den Seitenschiffen, an den Rückwänden des Chorgestühls) und Ulrich Triegel (in der Kiliansgruft), um an dieser Stelle nur einige zu nennen.
So kann das schön, frisch renovierte und restaurierte Neumünster in seiner wieder eröffneten Gestalt als liturgischer Raum uns immer wieder daran erinnern, dass es Gott selbst ist, der uns diese Räume des Lebens ermöglicht. Das Neumünster erinnert uns in seiner bewegten Baugeschichte aber auch daran, dass alle liturgischen Räume provisorische Räume sind in unserer zerbrechlichen und vorläufigen irdischen Existenz.
Im Zentrum steht daher die Feier einer Hoffnung, dass es an einem anderen Ort weitergehen wird: konkret hier auf Erden wie dereinst nach unserem Tod im Lebensraum des lebendigen Gottes. Diese Hoffnung auf eine Heimat bei Gott ist zu feiern auch jenseits der konkreten liturgischen Orte. Denn Steine sprechen nur, wenn sie Raum geben für jene Hoffnung, die wir feiern, die uns erfüllt und von der wir Zeugnis zu geben verpflichtet sind (vgl. 1 Petr 3,15).